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Pressemitteilung vom Januar 2024: Junge Menschen mit Behinderung und ihre Familien wollen in einer inclusiven Kinder- und Jugendhilfe überall dabei sei

 

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Von Rückentragen, tastbaren Bilderbüchern und dem Spiel mit dem weißen Stock Diesen Text vorlesen lassen

Blitzlichter aus dem Alltag einer Blinden Mutter

von Birgit Schopmans

erschienen in: Zusammen 3/2000, Selbsthilfe 1/00,Gegenwart 4/00, Spielen und Lernen 5/00, VdK Zeitung 3/00, Sozialrecht und Praxis 2/00, Berlin Konkret 3/00, Die Brücke Punktschrift

Als blinde Mutter bin ich immer etwas Besonderes, eine Exotin. Die Palette der Reaktionen reicht von Unglaube, Bewunderung bis hin zu Vorwürfen,“ dass ich mir mit ‘diesem Schick­sal’ noch ein Kind zumute, daß ich ja gar  nicht für das Kind sorgen könne...“ Ich habe eine fast zweijährige Tochter namens Hannah. Für mich und meinen Partner ist das Elternsein eine riesige Bereicherung. Das erste Jahr hatte ich Erziehungsurlaub, das zweite mein Mann. Er ist sehbehindert, sieht jedoch genug, um Hannah auch außerhalb unseres Hauses im Auge zu be­halten bzw. ihr, wenn nötig, hinterherzurennen, was für mich nicht möglich ist.

Hören, Fühlen und Intuition

In bezug auf meinen Alltag mit Hannah läuft manches anders als bei nichtbehinderten Müt­tern. So setze ich beispielsweise stärker andere Sinne, wie hören, fühlen, riechen, ein. Ich suche mit dem Finger Hannahs Mund, um sie zu füttern. Beim Wickeln fühle ich, ob ihr Po schon sauber ist. Wo sich Hannah gerade im Haus aufhält, höre ich meistens ziemlich schnell, weil sie normalerweise immer irgendein Geräusch macht. Über die üblichen Maßnahmen der Kindersicherheit in den eigenen vier Wänden hinaus, wie Kindersicherungen für Steckdosen und Schränke oder ein Herdgitter, müssen wir blinden Mütter im Ausfindigmachen und Aus­schalten von Gefahrenquellen besonders gründlich und erfinderisch sein.

Wenn sehende Mütter "kurz mal gucken, was das Kind gerade so treibt", setze ich eher mein Gehör ein oder fühle, was Hannah gerade in der Hand hat, wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie vielleicht doch beispielsweise ein Messer vom Frühstückstisch ergattert hat. Dabei spielt auch die eigene Intuition eine wichtige Rolle. Letzteres ist jedoch nicht spezifisch für blinde Mütter. So kennen wir Mütter vermutlich alle die "verdächtigen" Momente, in denen unser Nachwuchs entweder auffällig ruhig ist oder sich über irgendetwas besonders freut, während wir gerade abgelenkt sind oder uns in einem anderen Zimmer befinden.

Eine andere Kommunikation zwischen Mutter und Kind

Da zwischen Hannah und mir der Blickkontakt natürlich wegfällt, sprachliche Kommunika­tion jetzt erst beginnt, haben wir andere Formen der Verständigung miteinander gefunden. Dabei finde ich es immer wieder erstaunlich, wie flexibel sich schon ein sehr kleines Kind, beispielsweise auf das Nichtsehen der Mutter, einstellen kann. Wenn Hannah mir ein Auto oder ihr neues Schmusetier zeigen möchte, gibt sie mir dies in die Hand. Wenn sie meine Aufmerksamkeit möchte, zupft sie auch schon ‘mal an meinem Ärmel. Oder sie nimmt mich an die Hand, wenn ich mit ihr in ein anderes Zimmer gehen soll. Falls ich noch nicht gemerkt habe, daß Hannahs Brot schon aufgegessen ist, und sie ein zweites möchte, macht sie auf sich aufmerksam, indem sie mit dem Frühstücksbrett klappert oder mir dieses in die Hand gibt. Mit meinem Mann macht Hannah viele Späße über Fratzenschneiden und ähnliches. Späße zwischen ihr und mir laufen eher über lustige Geräusche oder einen scheinbaren Kampf um ein Spielzeug oder eine Socke.

Spielereien

Auch im Bereich des Miteinanderspielens sind immer wieder Kreativität und Informationen über Hilfsmittel nötig. Hannah und ich rollen gerne einen Ball hin und her, der innen mit einer Klingel versehen ist, damit ich höre, wo dieser gerade hinrollt. So ein Klingelball ist bei Hilfsmittelstellen für blinde Menschen erhältlich. Dort bekomme ich auch unterschiedliche Spiele, beispielsweise „Mensch ärgere dich nicht“, „Domino“ oder „UNO“, die durch Blin­denschrift und weitere Adaptierungen für uns zugänglich gemacht wurden. In bezug auf Hannahs Aktivitäten im „architektonischen Bereich“ kommt es mir nicht ungelegen, daß sie lieber mit Lego als mit Bauklötzen spielt. Im Gegensatz zu Legos, die besser halten, muß ich bei Bauklötzen mehr aufpassen, daß ich ihre Bauwerke nicht versehentlich zerstöre.

Für Hannah ist es ein besonderes Vergnügen, sich verfolgen zu lassen, was mit mir natürlich nur bei uns im Haus möglich ist. Da sie dabei immer laut lacht, weiß ich dann schon, wo sie hinrennt und kann hinterherspurten oder ihr beispielsweise von der anderen Seite des Tisches entgegenkommen. Auch mein Hilfsmittel, der Blindenstock, findet beim Spielen eine Ver­wendung. So entreißt mir Hannah, wenn ich von der Arbeit komme, oft den Blindenstock und marschiert damit durch die Küche. Sie schiebt den Stock dann so ähnlich vor sich her, wie ich das mache und will gar nicht mehr aufhören. Oder sie nimmt die Stockspitze und zieht den Stock, den ich dann noch in der Hand halte, zusammen mit mir hinter sich her.

Unterstützung von außen

Für den außerhäuslichen Bereich habe ich in meinem Erziehungsurlaub ca. vier Stunden pro Woche Assistenz gehabt. Dabei ging es vor allem um Begleitungen bei Einkäufen für‘s Kind oder bei Spaziergängen mit dem Kinderwagen. Spaziergänge waren für mich mit Tragetuch oder Rückentrage zwar auch ohne Unterstützung möglich, wurden jedoch mit Hannahs Ge­wichtszunahme immer anstrengender. Inzwischen laufe ich auch mit ihr an der Hand, was allerdings nur bei kurzen Strecken funktioniert, da sie irgendwann keine Lust mehr hat, weiterzulaufen.

Die Assistenz habe ich selbst finanziert. Nur weil ich einen relativ geringen Assistenzbedarf hatte, war dies für mich möglich. Zu der Zeit hatte ich einfach nicht die Kraft und Energie, eine Assistenzfinanzierung zu erstreiten, zumal ich wußte, daß diese hart erkämpft werden muß. Trotzdem haben es einige behinderte Frauen geschafft, Assistenz für die Versorgung ihres Kindes/ihrer Kinder über das Kinder- und Jugendhilfegesetz oder andere gesetzliche „Nischen“ ganz oder teilweise finanziert zu bekommen. Grundsätzlich gibt es jedoch leider noch keinen Rechtsanspruch auf Hilfsmittel oder Assistenz für die Ausübung von "Erzie­hungsarbeit“.

Für mich wäre im zweiten Jahr der Assistenzbedarf gestiegen, da der außerhäusliche Bereich schwieriger geworden ist. Ich kann noch nicht mit Hannah allein auf einen Spielplatz oder auf unserer wenig befahrenen Straße spielen gehen, da sie zwar schnell laufen, aber noch keine Gefahren einschätzen kann. Deshalb ist momentan außerhalb des Hauses nur das Laufen an der Hand oder ihre Mitnahme in der Rückentrage möglich. Ansonsten muß sie die Welt draußen ersteinmal überwiegend mit ihrem Vater, uns Eltern gemeinsam oder mit mir und Assistenz oder Freund/innen, erkunden. Obwohl mir klar ist, daß hier Hannahs Sicherheit vorgeht, fällt es mir manchmal nicht leicht, diese Grenze für mich zu akzeptieren. In solchen Momenten tröste ich mich damit, daß die Situation wieder anders aussieht, wenn Hannah etwas älter ist. Vermutlich wird sie schon in etwa einem Jahr verstehen können, daß sie nicht einfach weglaufen kann oder warum es gefährlich ist, auf die Straße zu laufen.

Der Austausch mit anderen behinderten Müttern

Praktische Erfordernisse im Zusammenleben mit meiner Tochter lassen sich, wie eben be­schrieben, in der Regel durch Kreativität, Hilfsmittel oder Assistenz lösen. Oft ist dabei der Austausch mit anderen blinden Müttern für mich sehr hilfreich, denn „ich muß ‘das Rad’ ja nicht immer wieder neu erfinden". So habe ich etwa durch eine andere blinde Mutter erfah­ren, daß es farbige Bilderbücher gibt, die gleichzeitig mit Blindenschrift und Tastbarkeit der Bilder zum Anschauen/Ertasten für eine blinde Mutter/einen blinden Vater gemeinsam mit einem sehenden Kind, einsetzbar sind. Der Austausch mit anderen blinden/behinderten Müt­tern ist für mich jedoch auch wichtig, da es sich mit Gleichbetroffenen am besten über Pro­bleme sprechen läßt, die sich durch die Kombination Behinderung und Mutterschaft ergeben.

Fragen, über die ich immer wieder mit anderen behinderten Müttern spreche sind beispielsweise:

·      Erliege ich manchmal der Versuchung, mich als blinde Mutter gegenüber der nicht­behinderten Umwelt beweisen zu müssen?

·      Wie reagiere ich bei diskriminierenden Reaktionen, wenn mir etwa die Kompetenzen als Mutter aufgrund meiner Blindheit abgesprochen werden?

·      Wie kann ich trotz gesellschaftlicher Geringschätzung selbstbewußt meine Rolle als Mutter leben und genießen?

Für mich ist bei einem solchen Austausch jedoch wichtig, daß wir nicht bei erlebten negati­ven Erfahrungen hängenbleiben, sondern uns gegenseitig stärken und einen konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Schwierigkeiten und Problemen entwickeln.

Ich tausche mich überwiegend mit einer anderen blinden Mutter vorort in Kassel sowie zwei weiteren behinderten Müttern im Rahmen von Brieffreundschaften aus. Da jedoch viele behinderte Mütter/Eltern nicht über solche Kontakte verfügen, gibt es seit Anfang der 90er unter­schiedliche Treffen behinderter Mütter oder Eltern, die im Bundesgebiet regional und überregional stattfinden. Treffen behinderter Mütter entstanden überwiegend auf Initiative einzelner Frauen im Rahmen der Netzwerke behinderter Frauen. Demgegenüber entstanden Zusammenschlüsse behinderter Eltern aus der Behindertenbewegung heraus zum Beispiel durch Seminare des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter e.V.. Dabei geht es neben einem Austausch wie oben beschrieben, auch um die Entwicklung und Realisierung politischer Forderungen zur Verbesserung der Situation behinderter Mütter/Eltern. Da in Deutschland bisher nur einzelne Zusammenschlüsse behinderter Mütter/Eltern existieren, müssen wir alles dafür tun, um ein flächendeckendes Unterstützungsangebot für unseren Personenkreis aufzubauen!

Literaturhinweise:

Hermes, Gisela (Hg.):

            Krücken, Babys und Barrieren - Zur Situation behinderter Eltern in der Bundesrepublik, bifos-Schriftenreihe, Kölnische Str. 99,34119 Kassel, 1998

Marek, Petra:

            Jeden Tag ein Stück des ganz normalen Wahnsinns" Eine andere Frau und Mutter?,       (Schwerpunkt‑Heft "Ungleiche Schwestern") die randschau, 8.Jg., H.5, 1993, S.23‑24

Paul, Anette:

            Mutter sein unter dem Aspekt der Blindheit, horus 3/90, S.83‑88

Pixa-Kettner/Bargfrede, Stefanie/Blanken, Ingrid:

            „Dann waren sie sauer auf mich, daß ich das Kind haben wollte...„, Eine            Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der          BRD, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 75, Nomos            Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1996

Rischer, Christiane:

            Wie schaffen sie das bloß? Behinderte Mütter und ihr Alltag, Arbeitsbericht zu den        Seminaren im Mütterzentrum Dortmund e.V., Adlerst. 81, 44137 Dortmund, 1998

Schopmans, Birgit:

            Behinderte Mütter-Tanz auf dem Drahtseil, Stiefmütterchen Nr.29, Frühj./Herbst 94,     S.54f

Seipelt‑Holtmann, Claudia:

            Behinderte Mütter-gibt es sie wirklich? Ein Alltag zwischen Diskriminierung,       Lebensbejahung und Selbstverständlichkeit, (Schwerpunkt‑Heft "Ungleiche       Schwestern") die randschau, 8.Jg., H.5, 1993, S.20‑22

Häußler-Sczepan, Monika:

            Frauen mit Behinderung: Mütter und arm?, in: Dokumentation des Symposiums „Frauen mit Behinderung-Lebenund Interessen vertreten-LIVE„ vom 05.-07.05.1999 in             Freiburg im Breisgau, herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioeren,     Frauen und Jugend, 11018 Berlin, November 1999, S. 13-15

Hermes, Gisela:

            Behinderte Mütter in Deutschland, in Dokumentation des Symposiums „Frauen mit        Behinderung-Lebenund Interessen vertreten-LIVE„, s.o., S. 15-17

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